Die Aufgabe ist klar und für mich reizvoll: bring uns nach St. Petersburg, um den deutschen Soldatenfriedhof zu besuchen. Zeit: 3 Tage hin, 3 Tage dort, 3 Tage zurück und ein Reservetag. Keine Verpflichtungen für mich, sondern ich bin nur als Berater tätig und kann mein eigenes Ding machen. Also los.

Die erste Etappe ist relativ kurz. Trotzdem treffen wir uns bereits um 7 Uhr an diesem Freitag. Für die knapp 700 km benötigen wir trotz Autobahn 10 Stunden. Es werden viele Pausen gemacht, klar, man muss sich kennenlernen, denn ich bin neu in der Gruppe. Am Abend bringe ich ein paar Formulare mit, die wir an der russischen Grenze ausfüllen müssen. Einer hat seine Zulassung nicht dabei. Er hat sie in Deutschland und auf seinen Auslandsreisen nie dabei und brauchte sie noch nie vorzeigen. Betroffene Gesichter. Wir haben 36 Stunden Zeit das Problem zu lösen. Ein Kurierdienst wird ausgeschlossen (Warum?). Der ADAC versendet in 24 Stunden Brillen und Medikamente, DHL-Express verspricht in 24 Stunden jede Sendung innerhalb der EU zu versenden. Am nächsten Morgen, bei der Aufgabe der Sendung in Deutschland, stellt sich heraus, dass diese Aussage nur für Werktage gilt und heute ist Sonnabend. Also erst einmal ein paar Kilometer schaffen und überlegen, denn Frühstück gab es erst ab 8 Uhr. Als der Entschluss gefasst wurde, die Zulassung trotzdem zu versenden und einen Tag später über die Grenze zu gehen, haben die Schalter in Deutschland schon geschlossen. Die zweite Etappe hatte nur kurz über 700 km. Obwohl wir stramm fahren kommen wir gegen 22.30 Uhr Ortszeit an. Die eine Stunde Zeitumstellung und der Verwandtenbesuch in Polen haben uns aufgehalten. Es ist dunkel, Frühherbst und die Restaurants in der Stadt schließen um 22 Uhr. In einem Schnellrestaurant bekommen wir was zu Essen und in einer Disko ein Bier. Nach Mitternacht liegen wir im Bett. Nach mehrmaligem Nachfragen erfahre ich, dass man versuchen will, mit einer Kopie der Zulassung den Grenzübertritt zu schaffen. Immerhin haben einige aus der Gruppe in diesem Jahr schon 4 Länder besucht. Ich komme zwar nur auf 5 Länder, aber dabei habe ich 6-mal die russische Grenze passiert. Im Februar war ich mit Freunden im Nord-Ural und vor 4 Tagen bin ich aus der Mongolei zurückgekommen.

Bereits bei der Vorkontrolle in die lettische Grenzzone werden wir abgewiesen. Das Motorrad bleibt in Sichtweite des Postens auf dem öffentlichen Parkplatz für die Dauer unseres Aufenthaltes in Russland stehen. Damit kann die Rückreise nicht über die Küste mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten erfolgen. Wir müssen wieder diesen Übergang benutzen. An diesem Sonntag scheint sich alles gegen uns verschworen zu haben. Erst nach 1,5 Stunden dürfen wir die lettische Grenze passieren. Die Abfertigung auf russischer Seite verzögert sich erheblich. Zwar sind auch hier nur 2 Beamte im Einsatz, aber wir müssen viele Formulare ausfüllen. Typisch ist die Migrationskarte. Dann eine lange Zollerklärung mit teilweise unverständlichen Fragen. Neu ist ein langes Formblatt mit der Angabe des Arbeitgebers, der Heimatadresse, der zu benachrichtigenden Angehörigen und der genauen Angabe des Aufenthaltsortes. Neu ist auch ein Formblatt auf dem man bestätigt, dass man alles verstanden hat und sich an die Bestimmungen in Russland halten wird. Damit zählt jede Verfehlung in Russland als Vorsätzlich und wird besonders hart geahndet. Aber nach 2,5 Stunden sind wir auch hier fertig und dürfen einreisen.

Auf einer nahezu schnurgeraden Straße reisen wir über Pskow nach St. Petersburg. Auch an diesem Sonntag wird noch um 18 Uhr mit Hochdruck an den Straßen gearbeitet. Wie überall im Land ist man mit der Erneuerung der Brücken nahezu fertig und nimmt die Straßen komplett auf und erneuert sie grundlegend. Leider vergiss man auch hier, Kurven einzubauen.

Bei Dunkelheit an diesem Sonntagabend kommen ihr in Petersburg an. Der Rückreisestau in die Stadt hinein beträgt nur 30 km und ist damit erträglich. Allerdings ist das Lichtermeer erstaunlich und auch die Höflichkeit und Rücksicht der Autofahrer ist unbedingt bemerkenswert. Unser Hotel entpuppt sich als Ferienwohnung in unmittelbarer Nähe Newski-Prospektes und der Ermitage.

Der nächste Tag empfängt uns mit Sonnenschein. Gut gelaunt gehen wir frühstücken. Dann ist Sightseeing angesagt. Die Lutheraner Peter und Paul Kirche, die Kasaner Kapelle, die „Blutkirche“, der Platz vor dem Winterpalais, die Isaak-Kathedrale und dann ist es schon Zeit an Abendbrot zu denken. Jeder hat zwischendurch Souvenirs gekauft und auch einen Rucksack konnten wir im zentralen Kaufhaus günstig erwerben. Auch wenn das armenische Restaurant ein wenig abseits liegt, so ist zumindest der Rückweg für viele interessant. Am nächsten Morgen höre und sehe ich die Ergebnisse, denn ich hatte mich gleich nach dem Abendbrot verabschiedet. Anscheinend hat man viel Spaß gehabt. Der Spaß muss so groß gewesen sein, dass wir nur schwer in den Tritt kommen. Es gibt einen leichten Nieselregen der nicht unbedingt zur Verbesserung der Stimmung beiträgt. Endlich nach 12 Uhr geht es los.

Südlich von Schlüsselburg befindet sich ein Museum. Hier wurde nach fast 3 Jahren der Blockadering um Leningrad durchbrochen. Es gehört zur derzeitigen politischen Tradition in Russland, dass ein klotziges Museum hierher gebaut wurde. Bisher standen nur einige Kriegstechnik und ein herrliches Diorama an dieser Stelle, das diesen Moment darstellt. Im neuen Museum muss man sich 20 Minuten einen nichtssagenden Film ansehen, der die militärischen Erfolge in den Mittelpunkt stellt. Danach darf man sich 40 Minuten in einer Kriegslandschaft aufhalten, in der lebensechte Puppen und viel Technik einzelne Kampfsituationen darstellen. Man geht durch Unterstände und trampelt auf weggeworfene (deutsche) Kriegstechnik. Jedes Detail wird vom Guide genau erklärt und beschrieben. Das mag zwar für die Schulklasse, die sich mit mir in der Gruppe befindet, neu sein, aber ich verlasse nach der Hälfte der Zeit die „Ausstellung“. Auf Nachfrage erfahre ich, dass es selbstverständlich keinerlei Erklärungen auf Deutsch gibt. Die sowjetisch/russische Geschichte wird auf Russisch verklärt und geschrieben. Es wird nie so viel gelogen wie vor, während und nach einem Krieg!

Die nächste Station ist der deutsche Soldatenfriedhof in der Nähe. Ich kenne die großen Friedhöfe in Smolensk und Kursk, aber dieser übertrifft in der Dimension doch alle bisher gesehenen. Im Endausbau sollen hier einmal 80 000 deutsche Soldaten auf 5 ha bestattet werden, denn noch immer findet man Überreste. Diese werden in kleinen Holzsärgen hier gebettet. Aber nicht zu jedem findet man einen Namen und ganz viele Soldaten können aus den unterschiedlichen Gründen hier nicht bestattet werden. Und so werden die Namen aller gefallenen oder vermissten deutscher Soldaten alphabetisch geordnet mit Geburtsdatum und (vermutlichem) Sterbedatum auf großen Steintafeln gemeißelt. Besonders erschreckend ist die Tatsache, dass auf jeden getöteten Soldaten mindestens 1 vermisster und 1 erfrorener Soldat kommen. Insgesamt 3 Jahre wurde hier erbittert gekämpft bis im Januar 1944 der Ring um Leningrad gesprengt wurde. Von den 2,5 Millionen Einwohnern Leningrads sind 1,1 Millionen überwiegend verhungert und eine halbe Million anderweitig umgekommen. Das sind doppelt so viele, wie Zivilisten in ganz Deutschland umgekommen sind. Ca 1/2 Million russische Soldaten starben und mindestens genauso viele auf deutscher Seite. Erst 1992 hat man die Belagerung von Leningrad als Genozid eingestuft. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist der Wunsch, das Grab seines Großvaters zu besuchen, eine schwierige Mission. Doch bei aller Propaganda wird von jedem Russen dieser Wunsch respektiert. Man hat Erfahrungen in der Unterscheidung zwischen Propaganda und dem Wunsch eines Menschen. Auch uns hat dieser geschichtliche Hintergrund sehr mitgenommen, so dass wir nur das Bedürfnis verspüren früh schlafen zu gehen. Unseren letzten Tag verbringen wir ein wenig ungeordnet. Allein 1 Stunde warten wir auf dem Postamt um 10 Briefmarken kaufen zu können. Die Fahrt nach Peterhof wird abgesagt, weil das Wetter nicht sehr schön ist und so benutzen wir den Hope-On-Hope-Off-Bus. Auch die Kanalfahrt verzögert sich so lange, bis es sich nicht mehr lohnt. Also machen wir das Beste aus der Situation und gehen in ein Russisch-Slavisches Restaurant. Diesen Geheimtipp abseits der Touristenmeile habe ich im letzten Jahr bei unserem internationalem Familientreffen erhalten. Es gibt Fischsuppe, Bortsch und natürlich Beef Stroganoff. Auf ein Glas Abschiedswodka verzichten wir, denn wir müssen am nächsten Morgen fahren. Bei dem Spaziergang zurück besuchen wir noch das etwas abseits gelegene Denkmal der deutschen Kaiserin von Russland. 8 Männer und eine Frau, die in der damaligen Zeit sehr bedeutend waren, sitzen zu ihren Füßen.

Am Abreisetag passieren die typischen Anfänger-Fehler. Das „in Ruhe frühstücken“ ist ja noch ok. Aber müssen noch Souvenirs gekauft werden? Muss man wild durch die Stadt fahren, nur weil das Navigationsgerät das so zeigt? Wollten wir nicht noch an einigen Sehenswürdigkeiten vorbeifahren und eventuell anhalten um ein gemeinsames Foto zu machen? Ist der Drang nach Hause wirklich so groß, dass man nicht verabredungsgemäß an der nächsten Tankstelle hält, sondern erst an der zehnten? Solche Situationen erlebe ich mit Gruppen immer wieder, man hat etwas „abgehakt“ und hat den Drang nach Hause! Ein wenig wird dieser Drang durch das schöne Hotel nach der Grenze gedämpft. Immerhin benötigten wir nur 1,5 Stunden für den Grenzübertritt und die Fahrtstrecke betrug nur 450 km. auch die nächste Etappe ist ähnlich lang und das Hotel in Polen lädt zum Entspannen ein. Dann trennen sich unsere Wege. Die letzten 1000 km fahre ich allein und nonstop. Mein Auftrag ist erfüllt!

Fazit

Als Berater für eine eingespielte Gruppe zu fungieren, ist sicher reizvoll. Besonders dann, wenn sich wie in meinem Fall die persönlichen Interessen mit denen der Gruppe decken. Vorher ist aber unbedingt zu klären, dass jeder für sich verantwortlich ist und der Berater keinerlei Verpflichtungen oder Haftungen übernimmt. Weder ist er verantwortlich für den Zustand der Motorräder noch für die Route oder den Zustand der Straßen. Als Berater muss man sich einfügen können und akzeptieren, dass seine Vorschläge auch missachtet werden können, gleichgültig wie gut oder sinnvoll sie waren oder sind. Dann wird, wie in meinem Fall, eine solche Reise ein tolles Erlebnis.