Ich bin mal kurz weg

.....sagte Egon Milbrod!

„Willst Du dieses Jahr nicht wegfahren?" fragte meine Frau eines Morgens beim Frühstück. Darauf hatte ich nur gewartet. Eigentlich war abgemacht, ich bleibe in Urlaub zu Hause und bringe das Haus auf Vordermann. Aber nun war alles schon bis auf ein paar Restarbeiten fertig. Ich bemühte mich um totale Ruhe und antwortete zwischen 2 Bissen: „Doch, morgen Vormittag!" Damit war alles gesagt, denn heimlich hatte ich mir sicherheitshalber schon ein Visum für Russland besorgt.

Am nächsten Morgen packte ich ein paar Sachen zusammen. Es sollte ja nur durch die baltischen Staaten nach Petersburg gehen, also nichts Besonderes. Die Übernachtungen sollten in möglichst preiswerten Unterkünften oder im Zelt erfolgen. In spätestens 2 Wochen musste ich wieder auf Arbeit erscheinen, also reichte eine Reisetasche in der das Zelt und der Schlafsack den meisten Platz wegnahmen. Über die langweilige Ostseeautobahn ging es immer ostwärts. Es war einer jener August-Tage, von denen man meinte es sei Ende September. Seit Tagen gingen die Temperaturen nicht über 21 °C und der scharfe Wind machte das Fahren nicht einfach.

An der polnischen Grenze hielt ich vergeblich nach irgendeinem Grenzbeamten auf deutscher oder polnischer Seite Ausschau. Diese Grenze ist also auch keine mehr! Ebenso endete die Autobahn und ging in eine Landstraße mit Tempolimits von 70 km/h über. Die vielen Baustellen und Ortsdurchfahrten sorgten dafür, dass ich nicht so schnell voran kam wie gedacht. Da nutzte es auch wenig dass ich mich kurzzeitig einer österreichischen Truppe anschloss, die mit Tempo 170 über die Ladstraßen donnerte. Am sehr späten Nachmittag erreichte ich Gdingen und beschloss, das erste Hostel zu nehmen, das auf dem Weg lag. Dieses befand sich inmitten des Hafenviertels, unmittelbar neben der Werft, an der die Streikwelle durch die Gewerkschaft Solidarnoc begann. Das Hostel war normalerweise ein Lehrlingswohnheim, wurde in den Sommermonaten aber als Wanderquartier genutzt. Voller Angst lies ich das Motorrad, eine nagelneue BMW F 800 GS, für jeden sichtbar draußen stehen. Da beruhigte es auch wenig, dass ich 2 riesige Schlösser an den Bremsscheiben befestigte. Aber alles ging glatt.

Platt erstreckte sich hinter Danzig die ca. 1000 km² große Weichsel-Niederung, hier Neu Holland genannt. Der preußische König gewährte holländischen Bauern, die auf Grund ihres Glaubens zu Hause Probleme hatten, hier in diesem Sumpf und Moor eine Zuflucht. Nebenbei durften sie dann auch den Sumpf trocken legen und zur Versorgung des Staates mit Lebensmitteln beitragen. Abenteuerlich als Supersportler verkleidete Radfahrer im fortgeschrittenen Alter, die in Gruppen zu 30 Personen die engen, kurvigen und leicht hügeligen Straßen in den Masuren bevölkerten, machten die Fortbewegung für die Lkw und deren nachfolgenden Verkehr abenteuerlich. Zu allem Unglück schauerte es ständig und die Temperaturen überstiegen die 17 Grad nicht. Da entschädigte auch die ca. 50 km lange Chaussee durch den herrlichen, dichten Wald zur Grenze nach Litauen nur wenig.

Die Grenze ist wieder einmal ein Hohn und den Namen nicht wert. Man kann einfach durchfahren und niemanden stört es. Litauen ist die größte der 3 baltischen Republiken, etwas größer als die Schweiz und annähernd so groß wie Bayern. Das war nicht immer so. Das große Fürstentum beherrschte im Mittelalter Weißrussland sowie weite Teile des heutigen Polens, der Ukraine und Russlands. Die Personalunion mit Polen zum Zwecke der Abwehr des deutschen Ordens führte dazu, dass Litauen nach dem Aussterben des litauischen Herrscherhauses das gleiche Schicksal wie Polen erlitt. In Folge der mehrfachen Teilung Polens, geriet es immer mehr unter fremder Herrschaft. Die neuen Herren sprachen polnisch, schwedisch, deutsch und russisch und jeder schaltete und waltete nach Belieben. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Litauen für kurze Zeit wieder eine freie Republik bis in der Stalinzeit der russische Würgegriff erneut angesetzt wurde. Vilnius, die Hauptstadt, ist heute eine von Touristen gerne besuchte Stadt. So kommt es, dass ich um 18 Uhr in keinem der vier Hostel der Innenstadt ein Nachtlager erhielt. Ich lerne zum ersten Mal einen Umstand schmerzlich erkennen, der mir immer wieder auf dieser Reise begegnen wird: Es ist im ehemaligen Ostblock außerordentlich schwierig, eine Unterkunft zwischen 20 und 50 Euro zu bekommen. Es ist häufig überhaupt kein Problem ab 80 Euro aufwärts in einem Mittelklassehotel unterzukommen. Es mag Biker geben, die Wert auf solche Sterne Hotels legen,aber ich komme mir durchgefroren und völlig vor Nässe triefend in diesen Stätten deplaziert vor. Erst nach 4 Stunden Sucherei habe ich ein Nachtlager ca. 15 km vom Stadtzentrum entfernt gefunden das meinem Budget halbwegs entspricht. Dafür nehme ich dann in Kauf, dass die zweite Tasse Kaffee extra kostet, es nur zwei Scheiben „Wurst" und trocken Brot zum Frühstück gibt und das Zimmer zur Nordseite ist (da trocknen die Sachen, besonders die Stiefel, sehr gut!). Dafür ist der nächste Tag, den ich für einen Stadtbummel in Vilnius nutze, einer der ganz wenigen auf meiner Reise an dem es nicht regnet!

Von den vielen Attributen, die man dem Stadtkern Vilnius zukommen lässt, finde ich persönlich, dass „Jerusalem des Nordens" am zutreffensten, obwohl ich selbst noch nicht in Jerusalem war. Das Großfürstentum Polen-Litauen gewährte allen verfolgten Juden Asyl und Katharina von Russland verbannte die Juden in die Städte. Auf Grund der bedeutenden Handelstätigkeit in der Hafenstadt waren früher bis zu 50% der Bevölkerung der Stadt Vilnius Juden. Kopfsteinpflaster, idyllische, verwinkelte Gässchen und Hinterhöfe, geduckte Häuser und in den wenigen Hauptstraßen ein steinernes Bilderbuch der europäischen Architekturgeschichte durchbrochen durch große russisch-orthodoxe oder katholische Kirchenbauten, prägen das Bild der Stadt. Vom Burgberg, der eine herrliche Sicht über die Vilnja auf die Bürohochhäuser der Neustadt zulässt, wandere ich den üblichen touristischen Pfad entlang in Richtung Bahnhof. Auf kleinen Märkten wird neben dem üblichen Tand immer wieder Bernstein, das Gold der Ostsee, in den verschiedensten Variationen angeboten. Man kann sich als Tourist wohl fühlen, es ist alles sehr ordentlich und mit einigen Brocken Englisch kommt man sehr weit. Bereits 1387 erhielt Vilnius das Magdeburger Stadtrecht. Nach der 3. polnischen Teilung kam 1795 die Stadt zu Russland und wurde neben Moskau und Petersburg die drittgrößte Metropole. Erst 1864 wurde es an der Universität verboten, die lateinischen Schriftzeichen zu benutzen. Trotzdem blieb das Litauische, wie bisher, die Sprache der einfachen Menschen. Die vielen Bauten der jüdischen Handelsleute befinden sich um den Rathausplatz und zwischen der Universität und dem Tor der Morgenröte, dem letzten erhaltenen Stadttor. Es ist ein Symbol für die wechselvolle Geschichte der Stadt und des Landes. Die heilige Madonna im Stadttor wird von außerordentlich vielen Katholiken verehrt und an der Rückseite des Stadttores befindet sich das einzig erhaltene Stadtwappen Vilnius, welches die Russen nicht beseitigt haben. Es wird ungewöhnlich viel geheiratet, ich kann allein an diesem Tag 15 Brautpaare in der City entdecken. Es herrscht kein Mangel an Restaurants, Bar und Cafes in der Altstadt. Sie laden zum Verweilen ein, wobei das Preisniveau dem in einer deutschen Kleinstadt durchaus ebenbürtig ist.

Mich zieht es auf dem weiteren Weg zum Europa-Park. Die französische Akademie der Wissenschaften legte den geografischen Mittelpunkt Europas bei 54°54´ n.B. und 25°19´ ö.L. fest, ca. 30 km nördlich von Vilnius. Wer es nicht glaubt, kann ja mal selbst nachmessen, wo sich die Mitte der maximalen Ost-West und Nord-Süd Ausdehnung befindet! „Schön wie im Wald", sagt man in Litauen. Folgerichtig hat man den Mittelpunkt Europas zu einem Skulpturenpark gestaltet. Wenn man ein klein wenig von der Geschichte dieses letzten europäischen heidnischen Volkes weiß, so bekommen die vielen im Wald auf 5 ha verstreuten Skulpturen einen Sinn.

Leider reicht die Zeit nicht, um die anderen Sehenswürdigkeiten Litauens z.B. die kurische Nehrung, Kaunas oder die vielen Nationalparks zu besuchen. Ich entschließe mich über Nebenstraßen nach Daugavpils in Lettland einzureisen. So schön und außerordentlich reizvoll die letzen Kilometer in Litauen auch seien mögen, die Strecke entlang der Daugava ist nur geeignet um schnell voran zu kommen. Missmutig suche ich die einzelnen Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke. Es schauert und wieder einmal betragen die höchsten Temperaturen 17°. Da ist die Sehnsucht nach einer trockenen Unterkunft größer als der Blick für die Schönheiten weitab der Hauptstraße. Irgendwann erreiche ich Riga, die Hauptstadt Lettlands und komme in der Altstadt in einem Backpacker Multishare-Room mit weiteren 9 Personen unter. Immerhin besser, als unterwegs im Wald zelten.

Die Altstadt von Riga ist komplett für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt, auch wenn die Poller so weit auseinander sind, dass Motorräder durchkommen. Der Parkplatz in der Tiefgarage eines Hotels, am Rande der Altstadt, ist so teuer wie mein Nachtquartier. Aber das ist nicht die einzige Besonderheit von Riga. Mein Eindruck von der Stadt ist, dass man sich sehr weltoffen gibt und dabei Gefahr läuft Identität und Kultur zu verlieren. Außerdem ist hier ist der russische Einfluss aus den letzten 200 Jahren noch am deutlichsten spürbar. Noch heute sind ca. 30% der Einwohner von Riga russischer Herkunft. Aber nie hatten die Litauer die Möglichkeit, ihre Identität zu entwickeln. Livland und Kurland unterstanden lange Zeit dem deutschen Orden, wechselten dann zu Polen-Litauen, Schweden und letztendlich zu Russland. Die Arbeitslosigkeit in Lettland ist heute die höchste in den baltischen Staaten. Im Hafen von Riga werden Güter für das bitterarme Nachtbarland Weißrussland umgeschlagen und über den Landweg transportiert. Dabei ist dieser Platz an der Daugava nicht erst seit der Hanse-Zeit ein bedeutender Handelspunkt gewesen. Dem Reichtum durch die rege Handelstätigkeit ist es zu verdanken, dass der historische Stadtkern heute zum Weltkulturerbe gehört. Die Rigaer lieben es, durch die herausgeputzten Gassen zu flanieren und in einem gemütlichen Straßencafe zu sitzen. Die Innenstadt gilt ihnen als Bühne, auf der sie von ihrem ernüchternden Alltag Abstand nehmen können. So ist es nicht verwunderlich, dass einem viele junge und außerordentlich „schräge Vögel" auf Schritt und Tritt begegnen. Daneben trifft man auffällig viele russische oder weißrussische Touristen, die durch ihre laute Sprache und ihr Verhalten auffallen. Doch nicht nur die mittelalterlichen und gut restaurierten Gebäude sind interessant. In den Wallanlagen der Bastei werden beispielsweise lettische Sagen und Märchen mystisch über installierte Lautsprecher vorgetragen. Bei meinen Rundgängen durch die Innenstadt finde ich auch das eher unbeachtete Denkmal für die Lettischen Schützen, der Leibgarde Lenins. Nur am Rande erwähnt wird im Okkupationsmuseum die Rolle der Lettischen Sonderpolizei im Nationalsozialismus. Mit gemischten Gefühlen verlasse ich Riga. Auf der einen Seite angetan von der Architektur und dem Flair dieser Handelsstadt, die meiner Heimatstadt Lübeck durchaus den Rang streitig machen könnte, andererseits von der Verschiedenheit der Leute hier, dem vielen Nachholbedarf baulicher und wirtschaftlicher Art. Aber auch mit Anerkennung für das seit dem Ende der Okkupation Geleistete.

Ich verlasse Riga und fahre über Nebenstraßen durch den Gauja-Nationalpark. Anschließend stehen einige Pils auf dem Programm. Dabei handelt es sich um Schlösser bzw. Landsitze ehemaliger betuchter Großbürger. Zu sozialistischen Zeiten wurden sie als Sanatorien genutzt oder verfielen. Heute sind sie wieder in Privatbesitz und überwiegend der Öffentlichkeit zugänglich, manchmal als Hotel oder einfach nur als Besichtigungsobjekt. So gelange ich auch zum Minhauzena muiza-muzejs. In diesem kleinen und bescheidenen Landhaus verbrachte der in der Nähe Hannovers geborene Baron Münchhausen die letzten Jahre seines Lebens. Hier, in dem Haus welches ihm sein Schwiegervater schenkte, erzählte er im Dorfkrug die berühmten Geschichten. Heute ist das Häuschen ein sehr stil- und liebevoll eingerichtetes Museum, abseits der Schnellstraße zwischen Riga und Tallin und ein Geheimtipp.

Starke Regenfälle und Temperaturen mit zeitweise unter 15° veranlassen mich, schnell weiter zu fahren. In Tallin, der Hauptstadt Estlands, erreiche ich nach einigem Suchen ein Hostel, welches sich an der Perepherie befindet. Nur sehr zögernd checke ich ein, die Neugierde und der Geiz überwiegen. Der Bau mit seinen krummen Wänden und zentimeterstarken Mauerrissen ist ein „Symbol sowjetischer Baukunst" und wäre auch zu DDR-Zeiten so nicht abgenommen worden. Aber so wurde gebaut: Hauptsache es hält, egal wie – der Plan musste erfüllt werden! Zwar sehen die anderen Blöcke in diesem Viertel besser aus, aber auch bei ihnen sind Fenster vergittert, Türen verrammelt, Wege kaum erkennbar und die vielen Autos werden irgendwie geparkt. Das Hostel befindet sich in der 4. Etage des 6-geschossigen Baues. Ich werde allein in einem Doppelbettzimmer untergebracht, welches nach kaltem Rauch stinkt, der Fußboden Brandlöcher aufweist, die Schranktüren nur an einem Scharnier hängen und der Fernseher nicht funktioniert. Die sanitären Einrichtungen erfüllen ihren Zweck. Einen Fahrstuhl gibt es nicht. Frühstück oder eine Gaststätte in der Nähe sind genauso wie Service (Fahrpläne, Stadtplan) nicht verfügbar. Anscheinend bin ich der einzige Gast für die etwa 30 Zimmer. „Assosiated with the International Youth Hostel Organisation" habe ich anders kennen gelernt! Andererseits, was will man für 15 Euro pro Nacht denn noch verlangen?

Mein Stadtbummel durch Tallin beginnt am Denkmal der „Estionia"- Katastrophe. Bereits zum dritten Mal bin ich in Tallin und immer wieder angetan von der sorgsam und liebevoll gepflegten Altstadt. „Bausünden" sind nur an wenigen Stellen zu erkennen, an denen im 2. Weltkrieg Gebäude total zerstört waren. Ansonsten wurde immer großer Wert auf die Restaurierung der alten Gebäude gelegt. Obwohl auch in Estland ein großer Prozentsatz der Bevölkerung russischer Herkunft ist, wird überall überwiegend Estnisch gesprochen, welches sehr stark mit dem Finnischen und Ungarischen verwandt ist. Nahezu jeder kann sich in einem guten Englisch ausdrücken weil es die Sprache ist, mit der sich die baltischen Republiken untereinander verständigen. Das der Tourismus sich zu einem profitablen Wirtschaftszweig entwickeln konnte, ist nicht Verdienst eine totalen Liberalisierung, sondern einer Bündelung der Kräfte und einem Konsensstreben. Der Stolz der Esten auf die eigene Kultur hat sich über Jahrhunderte erhalten können. Deshalb sind heute selbstbewusste, gebildete junge Leute dem Touristen mit Rat und Tat behilflich. Ich genieße es den alten Thomas auf dem Rathaus zu grüßen und die Dicke Margarete zu streicheln. Danach gehe ich über das lange Bein zum Domberg und über das kurze Bein zurück. Vom Domberg hat man einen herrlichen Blick über das alte Tallin, den Hafen und den monumentalen Olympiastützpunkt von 1980 Pirita. Dass der Zar mitten auf dem Domberg eine überdimensionale russisch-orthodoxe Kirche bauen lies vergisst man, wenn man sich unterhalb des Domberges in einer der engen Gassen befindet, die Auslagen in den Butiken bewundert oder in einem der vielen stilvollen Cafes und Restaurants sitzt.

Ich verlasse Tallin ohne diesmal nach Saaremaa zu reisen. Auch die riesigen Torflagerstätten in Zentralestland und die Universitätsstadt Tartu sind diesmal nicht das Ziel meiner Reise. Am Rande des Lahemaa Nationalparkes stoße ich auf der Suche nach einem Nachtlager eher zufällig auf einen Erholungspark, in dem ich bereits vor 5 Jahren für eine Nacht weilte. Ich bezahle schweren Herzens die 70 Euro für eine Nacht, genieße dann aber die Saunalandschaft und das Schwimmbad. Es handelt sich um eine Fehlinvestition, hier in äußersten Osten von Estland, wo der Anteil der Russischen Bevölkerung durch die hohe Industrialisierung über 90 % beträgt. Heute sind die vielen Fabriken nur noch Ruinen und die Ölschieferverarbeitung unrentabel. Die vielen Russen gelten als Ausländer und erhalten weder eine Arbeitserlaubnis noch einen Pass wenn sie der estnischen Sprache nicht mächtig sind. Sie sind unbeliebte Staatenlose in einem Land, in dem sie häufig geboren oder durch ihre Arbeit hierher verschlagen wurden. Wer hier vor 10 Jahren in ein Feriendorf investierte, hatte die Lage total verkannt. Ob und wann einmal die Grenze nach Petersburg geöffnet wird und sich dann diese Region belebt, steht in den Sternen.

Endlich wieder eine Grenze! Die LKW stauen sich am frühen Vormittag schon kilometerweit aus der Stadt Narva. Ich fahre bis zum Schlagbaum durch und werde auch bald in die Zone gewunken. Die Kontrolle auf estnischer Seite ist eher oberflächlich. Am Schalter stauen sich die Menschen, die zu Fuß über die Grenze nach Russland wollen. Zu beiden Seiten des Flusses erheben sich große, bereits von den Dänen errichtete Festungsanlagen, die den Zugang zum Peipussee bewachen. Sah das Grenzgebäude der Esten schon nicht allzu gut aus, so könnte man im Angesicht der windschiefen Container auf russischer Seite auf die wirtschaftliche Lage des Landes schließen. Doch bereits nach einer Stunde waren die Grenzformalitäten erledigt. Einige Dokumente waren in Gegensatz zu früher nicht mehr nötig und die Computer sind neuerdings sogar vernetzt und man war in der Lage Daten abzurufen. Moderne Technik, in Form von Lesegeräten, hält zögernd ihren Einzug und die übliche Versicherung konnte in Euro bezahlt werden. Es scheint, als wenn sich der russische Bär etwas bewegt hat.

Schlagartig hinter der Grenze wird die Straße zur Piste. Jetzt zeigt sich der Vorteil der GS und ich „bügele" die Schlaglöcher so weg. Um den Bus- und LKW-Verkehr zu meiden, fahre ich wieder Nebenstraßen und erlebe Russland pur. In der Nähe von Sosnovy Bor wird ein Hafenterminal gebaut. Durch den Regen und durch die vielen LKW ist von der Straße auf über 50 km Nichts zu erkennen. Wassergefüllte Schlaglöcher, die bis zu ½ m tief sind, wechseln sich ab mit LKW-Kolonnen, die im Zick-Zack im Schlamm nach einem Weg suchen. Normalerweise ist diese Strecke gesperrt, doch wenn man sich von Süden bzw. Westen nähert, fehlen alle Schlagbäume und Sperren. So komme ich direkt am streng geheimen Atomkraftwerk vorbei und grüße freundlich die Polizisten am Ausgang des Ortes, die penibel jeden hier Hineinfahrenden kontrollieren und ggf. abweisen.

Sankt Petersburg, mon amur. Mein Hostel liegt in unmittelbarer Nähe des Winterpalastes, gegenüber der Staatsbank. Natürlich muss das Motorrad auf der Straße stehen, aber kaum einer der Passanten nimmt Notiz davon. Ich nutze die Gelegenheit in Petersburg die Sehenswürdigkeiten zu besuchen, die ich bei meinen vorhergehenden Besuchen nicht geschafft habe. Die größte kunstgeschichtliche Sammlung (Ermitage) lasse ich aus, auch die Isaak-Kathedrale und die Christi-Auferstehungskirche oder das Einkaufszentrum Gostini Dwor. Auch Peterhof und Novoje Selo mit dem Bernsteinzimmer braucht man nur einmal zu sehen.

Aber in den vergangenen Reisen habe ich keine Fotos von Petersburg bei Nacht machen können und auch die eine oder andere Aufnahme muss nachgeholt werden z.B. die des Panzerkreuzers „Aurora" oder des Denkmals Katharina II. Im russischen Museum möchte ich mir die bekanntesten Bilder des Malers Ilja Repin ansehen, doch weite Teile des Museums werden renoviert und viele Abteilungen sind geschlossen. Ich zahle hier, wie auch sonst, den 2-3-fachen Eintrittpreis. An der Kunstkammer darf ich mich trotzdem in die Schlange einreihen und wie alle Russen über 2 Stunden auf Einlass warten. Peter I. hat die Russen ins Museum gebracht, indem er ihnen beim Ausgang ein Glas Wodka und ein Stück Brot gab, heute ist die anatomische Sammlung der Anziehungspunkt und wird entsprechend bestaunt. Mich zieht es zum Gottorfer Globus, den sich Peter I hat schenken lassen. Da er dann nur umher lag, verbrannte er irgendwann und wurde als Replik mit kyrillischer Beschriftung neu gebaut. Nach dem Krieg war er als deutsches Kulturgut kurze Zeit in Deutschland und befindet sich jetzt wieder in russischen Besitz. Anlässlich des Putin-Besuches 2004 wurde in Schleswig-Gottorf der Globus samt Globus-Haus neu gebaut und der Barock-Garten annähernd in seiner alten Schönheit wiederhergestellt. So gelang es mir innerhalb kurzer Zeit beide Exemplare zu sehen und Vergleiche anzustellen.

Ich verlasse Petersburg um nach Petrosawodsk in Karelien zu reisen. Von hier aus sind es nur ca. 1,5 Stunden mit dem Tragflächenboot zu einem Weltkulturerbe der besonderen Art. Inmitten dieser Seenlandschaft hat sich über Jahrhunderte ein altes Kloster erhalten, welches früher einmal Zentrum eines ganzen Verwaltungsbezirkes war. Herausragendes Bauwerk ist die 35 Meter hohe Verklärungskirche, die von 22 Kuppeln bekrönt wird. Sie gilt als der kühnste erhaltene Holzbau Russlands. Es ist außerordentlich schwierig solche Holzbauten zu erhalten. So wäre die Verklärungskirche ohne das Gerüst in ihrem Inneren schon längst eingestürzt. Die meisten der Balken sind völlig morsch. Seit Jahrzehnten wird gestritten wie die Kirche vor dem Verrotten zu bewahren sei. Es bleibt zu hoffen, dass das Gebäude noch zu retten ist, bevor der Streit entschieden ist. Immerhin bringen die reichen ausländischen Touristen, die mit Fluss-Kreuzfahrtschiffen hier angelandet werden, Geld in die notorisch leeren Kassen auch wenn trotz des 7-fachen Eintrittspreises Dolmetscher oder Beschriftungen in englischer Sprache auf dem Gelände außerordentlich rar sind.

Ich verlasse Karelien und fahre quer durch die Wälder in Richtung Finnland. Hier, abseits der Magistralen kann die GS ihre Qualitäten zeigen. Im Eiltempo versuche ich nach Hause zu kommen. Motorrad-Urlaub ist eigentlich ein wenig anders im Gegensatz zu diesem Trip. Es verging kein Fahrtag an dem es nicht mindestens eine Stunde geregnet hat. An kaum einen Tag erreichte das Thermometer 20°. Darüber können auch nicht die vielen Reiseeindrücke und Erlebnisse hinwegtrösten! Insgesamt jedoch sind die Baltischen Länder eine Reise wert. Nur einen Billig-Urlaub sollte man nicht erwarten! Aber wer Natur erleben will ist in diesen freundlichen Ländern sicher und bestens aufgehoben.

 

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