Ich wollte es wissen,
ja ich wollte es wissen! – Und es hat geklappt!
Ein strammer Zeitplan mit nur
wenigen Reservetagen und ambitionierte Ziele waren die Grundlage für diese
Reise. Eigentlich könnte jeder der 4 Teilabschnitte thematisch und inhaltlich eine
separate Reise sein!
1.
Anreise
Die
Anreise mit vollem Gepäck für 6 Wochen gestaltet sich auch auf den überfüllten
deutschen Autobahnen schwierig. Erste Station ist ein Vater-Sohn-Wochenende in
der Hallertau. Eigentlich ist es ein Africa-Twin-Treffen, aber mit meiner BMW
bin ich kein Exot. Die gestellten Aufgaben führen uns in leichtes bis
mittelschweres Gelände. Ich kann einigermaßen mithalten und lerne neue Seiten
bei meinem Sohn kennen, den ich sonst nur ein oder zweimal im Jahr sehe. Viel
zu schnell vergeht das Wochenende und ich fahre von dort gleich weiter. Es geht
nach Österreich zu Elisabeth. Dieser Besuch steht schon lange aus. Ganz oben in
den Bergen kann man abschalten. Leider klettert das Thermometer auch im
Hochsommer kaum über 20 Grad. Wir reden viel, nicht nur über die Arbeit. Am
nächsten Morgen geht es durch die Slovakei nach Galizien. Es ist schon sehr
viel Fantasie nötig um zu meinen, dass man in Europa ist. Wolhynien ist
hingegen ganz anders. Den alten Demtschuks geht es schlecht, sie mussten im
Frühjahr sogar hungern. Die pro-ukrainischen Milizen waren da und haben alle
Lebensmittel „requiriert“. Die allgemeine Inflation macht ein Übriges. Die
Einkaufspreise steigen schwindelerregend und die Erlöse stürzen in den Keller.
Rente bekommen sie nicht und Krankenversichert sind sie auch nicht. Schon unter
der Sovjetmacht hatte sie es als Mormonen nicht leicht und jetzt erst recht! Auch
im dritten Anlauf gelingt es mir nicht nach Milashew zu kommen. Diesmal sind
die Wege aufgeweicht und sumpfig. Entnervt fahre ich nach Kiew. Die Kämpfe in
der Hauptstadt sind zwar schon vor Monaten beendet, aber Heerlager von Milizen
jeglicher Farbe sind in den Seitenstraßen zu beobachten. Einpeitscher
„mobilisieren“ kleine Häuflein von „Demonstranten“ und Kameramänner haben Mühe
sie so aussehen zu lassen, dass es Massenproteste sind. Meine Gast-Eltern
wohnen außerhalb und haben ihr Grundstück mit 2 m hohen Mauern umgeben. Auch
sie haben einen unerschütterlichen Glauben, dass bald das Paradies in Form des
Euro da ist. Darauf trinken wir einen! Auf dem Weg zur Grenze fahre ich an
schnell errichteten militärischen Stellungen und Panzersperren vorbei, die den
Vorstoß der „imperialistischen Russischen Armee“ verhindern sollen. Diese welt-entrückten
Träumer!!! An der Grenze werde ich von den Polizisten ultimativ aufgefordert
„Geschenke“ zu geben. Das ist im ganzen Land so üblich und hält die Wirtschaft
am Laufen. Leider habe ich weder Dollars noch Euro, sondern nur Traveler
Cheques. Na gut, ich habe Zeit und lasse eine mehrstündige intensive Kontrolle
über mich ergehen. Erst sehr spät am Nachmittag passiere ich die Grenze und bin
in Russland. Glücklicherweise habe ich so viele Rubel bei mir, dass ich kurz
vor Mitternacht in Kursk das erste Hotel nehmen kann. Über die Autobahn geht es
danach nach Wolgograd. Endlich ein Land, in dem auch nicht alles in Ordnung
ist, aber in dem man die Bemühungen um ein geordnetes Staatswesen erkennen
kann.
2.
Pilgerfahrt
Bischof
Pickel hat als einziger geantwortet. Neben der Einladung gab er auch die
politische Situation zu bedenken. Ich finde in Wolgograd die Unterkunft der Priester
und werde untergebracht. Jonas macht hier sein FSJ und betreut mich neben
seiner Arbeit. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt kenne ich von meinen früheren
Aufenthalten. Aber das katholische Leben in dieser Millionenstadt ist mir neu.
Ich bekomme nicht alle Probleme zu sehen, aber was ich sehe reicht mir. Die
zentrale Kleiderkammer der Caritas besteht aus einem zweitürigen Schrank, in
dem Kleidung und Schuhe für Bedürftige gelagert werden. Die katholische Kirche,
in der während der Kämpfe um Stalingrad die berühmte Madonna entstand, war
damals ein „Kulturhaus der Werktätigen“ und nach dem Krieg dem Verfall
preisgegeben. Heute „lebt“ die Kirche wieder. Ich halte mich hier zwei Tage
auf. Später werde ich es bereuen, nicht nach Rossoschka gefahren zu sein. Aber
ich will die Wolga entlang nach Norden. Leider konnte ich aus Zeitgründen meine
Reise nicht in Astrachan beginnen. Deshalb „spule“ ich ein strammes Programm
ab. Trotzdem besuche ich ein Erholungsheim der katholischen Kirche für Kinder
aus sozial schwachen Familien. Die Kinder haben in Russland 3 Monate Ferien und
viel stromern während dieser Zeit ziellos in der Stadt umher und machen Dummheiten.
In Saratov werde ich von den katholischen Priestern schon erwartet. Die „stille
Post“ von Bischof Pickel funktioniert. Auch die Zusammenarbeit der Kirchen
funktioniert, zumindest hier. Ich besichtige die im Entstehen begriffene Lutheraner
Kirche. Ja, bei den Lutheranern geht alles ein wenig langsamer voran. Schon 10
Jahre baut man an dieser Kirche und sie ist immer noch nicht in fertig. Doch
wenige Wochen nach meiner Abfahrt wurde nicht nur der Pastor geweiht sondern
auch die Kirche offiziell eingeweiht. Auf der Fahrt weiter nach Norden sehe
ich, dass auch auf dem flachen Lande einige Kirchen dieser deutschen
Siedlungsgebiete aus den Ruinen entstehen. Von den Deutschen finde ich keine Vertreter
- sie sind in Deutschland. Marx ist ein verschlafener Ort. Im katholischen
Zentrum treffe ich nur eine Ordensschwester an. Ja, der Bischof hat mich
angekündigt, ich möge mich in der Männerabteilung wie zu Hause fühlen. Ich
suche Spuren in diesem Ort, in dem die ersten deutschen Siedler wohnten. Die
große Lutheraner Kirche steht immer noch auf dem Marktplatz, der in der
Vergangenheit und auch heute Aufmarschgebiet für die zahlreichen Kundgebungen
der Offiziellen ist. Obwohl sie offensichtlich nicht gut erhalten ist, soll sie
in Betrieb sein! Das örtliche Museum gibt nicht viel her. Ich finde heraus,
dass die anderen Kirchen im Ort zerstört sind. Allerdings treffe ich im
Deutschen Kulturzentrum eine junge Dame, die mir ein wenig über das deutsche
Kulturleben in diesem Haus berichten kann. Denn draußen ist alles Deutsche
getilgt, sogar die Inschriften auf den Denkmälern! Weil ich am nächsten Tag die
Morgenmesse um 5 Uhr verschlafen habe, konnte ich nicht den Bischof sprechen,
der spät in der Nacht hier eintraf und sofort nach der Messe weiter fuhr. In
Samara erwartet mich Niklas. Auch er macht sein FSJ hier in der Lutheraner Gemeinde.
Pfarrerin Olga Temirbulatova ist zwar wegen dem „verrückten alten Mann mit dem
Motorrad“ irritiert, aber lässt sich am nächsten Morgen auf ein Gespräch ein.
Ich bin nicht nur wegen ihrer Aufbauarbeit begeistert, denn ohne viel Mittel
ist das gerade rückübertragene Gelände von Grund auf zu sanieren bzw. instand
zu setzen. Man weiß nicht wo man zuerst anfangen soll. Ich habe, dank Niklas,
auch den Stalin Bunker gefunden! In Uljanowsk werde ich vom Lutheraner Probst
für Südrussland persönlich empfangen und betreut. Ich verschaffe mir einen
Eindruck von dieser Kleinstadt mit einer halben Million Einwohner. Seit über
einen Jahrhundert ist diese Gegend von Samara – Simbirsk/Uljanowsk – Kasan das
geistige Zentrum Russlands. Neben vielen Dichtern, Musikern und
Wissenschaftlern brachte diese Gegend auch den Führer der Weltrevolution
hervor, der, wie auch seine Geschwister, die vielen Studienmöglichkeiten
nutzte. Ich muss an diesem Sonntag den Gottesdienst mitmachen und anschließend
viele Fragen der Kirchenbesucher beantworten. Es danach geht es weiter nach
Kasan. Dort werde ich von der Kirchgemeinde in einem Hotel im muslimischen
Viertel untergebracht. Ich habe noch nie in meinem Leben so ruhig geschlafen,
wie an diesem Abend, an dem das Ende des Ramadan gefeiert wird! Tatarstan ist
ein muslimisches Land, aber davon merkt man nicht viel. Ich besuche den Kreml
und die zweitgrößte Moschee in Europa (war sie jedenfalls damals!). Kasan hat
alles zu bieten, was der europäische Tourist sehen möchte. Ich bin gerne in
dieser Stadt. Die Lutheraner Kirche in einer Häuserzeile ist kurz vor der
Vollendung. Ich versäume es nicht, das größte Heiligtum der katholischen und
orthodoxen Kirche zu besuchen: die Ikone der Heiligen Mutter Gottes von Kazan! Mit
positiven gemischten Gefühlen fahre ich nach diesem Ruhetag weiter. Zwar werde
ich später noch die Lutherader Kirche in Perm besuchen. Dort werde ich auch interessante
Begegnungen haben. Aber vorerst endet hier meine Pilgerfahrt und der nächste
Teil meiner Reise beginnt.
3.
Nach Norden.
Es
fällt mir immer schwer so etwas zu schreiben, aber Kirov (Wjatka) liegt am
Rande von Irgendwo! Ich fand Nichts Erwähnenswerte. Es geht weiter in die
Republik Komi, so groß wie Deutschland aber nur kurz unter 1 Million Einwohner.
In der Hauptstadt Syktavkar habe ich Mühe ein Zimmer unter 100 Euro zu
bekommen. Die guten Verdienstmöglichkeiten in den Erdgasfeldern und die Lage am
Polarkreis machen diese Gegend zu einer der teuersten in ganz Russland. Die
Ureinwohner können es sich leisten, dass ganze Rentierherden mit dem
Hubschrauber transportiert werden. Wenn man die „Möchtegerne-Hauptstadt“
verlässt wird man von der Realität eingeholt. Uchta ist schon der letzte Ort zu
dem eine Straße führt. Weiter ist noch kein europäischer Motorradfahrer
gekommen. Ich fahre die 350 km Piste durch Wälder, Sümpfe und leichten Sand.
Dabei werde ich ständig von den schweren LKW überholt, die mit 60 -90 km/h hier
entlangfahren. Zum Glück regnet es nicht, denn dann ist die Strecke
unpassierbar (und ich muss hier wieder zurück!). Mit dem letzten Tropfen Benzin
(ich habe noch einen Reservekanister dabei) erreiche ich den Petschora-Fluss
und setzte mit der Fähre über. In Petschora bin ich am nördlichsten Ziel
angekommen und werde vom örtlichen Motorradclub betreut. Zwei Ruhetage gönne
ich mir, denn ich bin gut gefahren und brauchte noch keinen Reservetag in
Anspruch nehmen. Aber wenn Kirov (Wjatka) schon am Rande von Irgendwo ist, dann
bin ich hier im Nirgendwo. Leider fehlt auch der Schnee, der vieles verdeckt.
Trotzdem: die Erholung war gut und die Zeit habe ich auch überstanden. Also
zurück! In Syktavkar besichtige ich die im Entstehen begriffene Kirche der
Baptisten. Seit den 50-iger Jahren gibt es hier im Verbannungsgebiet eine
aktive Gemeinde, die es sich jetzt leistet eine Kirche zu bauen, die höher ist
als das höchste Gebäude der Stadt. Am nächsten Tag fangen die Probleme an. Das
hintere Radlager hat sich aufgelöst. Die Freunde raten mir nach Kirov zu
fahren. Zwar wird dort das Lager von irgendwelchen Hinterhof-Hilfs-Schlossern
gewechselt, aber die Betreuung durch den „roten MC“ ist hervorragend. Ich
verliere einen ganzen Tag.
4. In den Ural.
In
Ishewsk mache ich einen Besuch bei entfernten Verwandten. Es sind Armenier, die
hier leben. Leider ist die Zeit wieder einmal viel zu kurz! Zwar kann ich die
armenische Kirche und das ethnografische Museum besuchen, aber dann ist der Tag
auch schon zu ende. Überhaupt: Udmurtien ist zwar das Nachtbarland zu
Tatarstan, aber wesentlich ärmer. Das Bruttoinlandsprodukt beträgt nur 1/3 von
dem Tatarstans und die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 5,1 % aber
inoffiziell bis zu 40%. Durch die Zeitumstellung komme ich erst sehr spät in
Perm an. Die Lutheraner Kirche ist bescheiden, das Pfarramt wirkt verlassen. Der
Sohn des Pfarrers betreut mich. Das Gästezimmer ist ohne großem Komfort. Am
nächsten Morgen ergibt sich keine Gelegenheit zum Frühstück. Es passiert, was
passieren sollte! Bei der Ausfahrt aus dem Ort werde ich klassisch vor einer
Kreuzung „abgeschossen“. Das volle Programm wird abgespult: Notarztwagen und
Polizei. Der ADAC kann wieder einmal nicht helfen und der russische
Automobilklub will nicht helfen (Kostenfrage nicht geklärt). Obwohl der Fahrer
morgens noch 1 Promille Blutalkohol hat versucht er mich als Schuldigen
darzustellen. Erst das von mir angestrengte Gerichtsverfahren ein Jahr später
klärt das endgültig. Mein Bruch des Ellenbogens ist nach drei Jahren immer noch
spürbar und nicht endgültig ausgeheilt. Die Schäden habe ich an meinem Fahrzeug
(ca. 4000 Euro) und am gegnerischen Fahrzeug (ca. 500 Euro) bezahlt. Die Grüne
Karte war wieder wertlos. Aber wieder helfen die Freunde vom Motorradclub. In
einer Nachtschicht wird die Maschine zur Weiterfahrt hergerichtet. Zwar muss
ich die Arbeit bezahlen, aber es gibt sogar Freundschaftsgeschenke! Mit wahnsinnigen
Schmerzen und frierend (es regnet inzwischen und die Temperatur beträgt 15-17
Grad) fahre ich nach Jekaterinburg. Der Preis für das Nobel-Hotel ist mir egal,
ich will meine Ruhe! Schmerzmittel habe ich keine mehr, die habe ich in Ishewsk
vergessen. Irgendwann rufe ich Igor an. Igor ist Stadtverordneter von
Jekaterinburg und arbeitet in einer Rüstungsfirma für seltene Erden. Der holt
mich aus diesem teuren Hotel, bringt mit mir das Motorrad zu BMW und betreut
mich rührend. Wir besuchen gemeinsam die Schwerhörigen-Schule. Auch die
Direktorin der Schule ist anwesend. Das Dumme ist nur, ich habe keine Spenden
dabei, die liegen in einem Dorf 100 km von der Schule entfernt. Wir machen das
Beste daraus und „faken“ ein Übergabefoto! Igor zeigt mir in Jekaterinburg noch
viele Sehenswürdigkeiten, die ich so nicht kannte. Inzwischen ist die BMW
fertig repariert (nicht nur notdürftig) und ich kann weiter fahren. Jürgen ist
in dem Dorf, in dem auch Stefan wohnt. Es gilt Absprachen zu tätigen, wie wir
weiter die Schwerhörigen-Schule unterstützen. Es ist einer der wenigen Momente,
wo wir alle drei zusammen an einem Tisch sitzen können. Jürgen ist mit einer
Reisegruppe hierher gefahren und Stefan beherbergt sie alle. Wie üblich
interessieren sich die Reiseteilnehmer für ihre immensen eigenen Probleme und
nehmen mich glücklicherweise nicht wahr. Inzwischen laufen die Prellungen am
Kopf und an den Schenkeln blau an und die Rippen-Schmerzen lassen etwas nach,
so dass ich besser atmen kann. Die Schmerzen im Ellenbogen sind auszuhalten,
wen ich die Kupplung nicht betätigen muss. Das Wetter wird nicht besser und ich
brauche dringend einen Arzt. Also beiße ich die Zähne zusammen und begebe mich
auf die 4000 km lange Rücktour. Ich weiß bis heute nicht mehr, ob ich 3 oder 4
Tage dafür gebraucht habe. Ich weiß nur, dass ich in Vilnius ein 3 Sterne Hotel
zu einem guten Preis genommen habe und von dort aus non-Stopp bis Lübeck
gefahren bin. Nach drei Stunden Schlaf bin ich zum Durchgangsarzt, der die
Diagnosen stellte und nur den Kopf schüttelte. Was soll´s??!!
Ich wollte es wissen,
ja ich wollte es wissen! – Und es hat geklappt!
Zurück zum Menü --->