Reisebericht
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Reisebericht Sibirien

Ausgabe: 04/07

Autor: Egon Milbrod

Endlich war es soweit. Der letzte Schultag war angebrochen, und ich konnte meine Sachen packen. Grob wusste ich ja schon, was ich für die nächsten sechs Wochen mitnehmen würde. Aber wie das alles in zwei Seitenkoffer unterzubringen war, wusste ich nicht. Das Top-Case war für Ersatzkleinteile und Souvenirs gedacht, und in der Rolle nahmen der 20 l Kanister, die Konserven mit Lebensmittel und das Zelt den meisten Platz weg. Noch schnell das Motorrad gewienert und dann begann die letzte Nacht. Am nächsten Tag regnete es wie in Strömen. Hoffnung, dass es am Nachmittag besser werden würde, gab es nicht. Pünktlich gegen 13 Uhr kam Hans, den ich über Freunde kennen gelernt hatte, in Vollgummi aus Hannover an!
So konnten meine neue Rukka-Kombi und der BMW-Systemhelm gleich ausgiebig getestet werden. Die ersten Formulare für die Einreise nach Russland wurden mit Hilfe der freundlichen Mitarbeiter beim Check-in auf der Fähre in Rostock bereits ausgefüllt, und ich hatte wirklich alle erforderlichen Unterlagen mit!
Die 36-stündige Fährfahrt verging relativ zügig. Ein mulmiges Gefühl hatte ich schon! Mafia, polizeiliche Willkür, Armut, Gewalt… Russland eben, und das nach einer Dreitägigen Episode im Vorjahr das erste Mal und diesmal unorganisiert und auf eigene Faust. Doch welch ein Wunder: Die Abfertigung in St. Petersburg dauerte keine zwei Stunden, und schon konnte ich gegen 11 Uhr Hans die wichtigsten Stellen in St. Petersburg zeigen, die ich aus dem Vorjahr kannte. Nach einem kurzen Imbiss in der deutschen Kneipe „Tschaika” wollte ich gerne raus aus der Stadt.
Das Verlassen der Stadt gestaltete sich nicht leicht. Die ersten Schrauben lösten sich an meiner BMW, so dass ich schwer schalten konnte. Wie gut, dass ich „Locktite” dabei hatte. Hinweisschilder für den Fernverkehr gab es selten und wenn, dann waren die Orte nicht die, die ich kannte. Ortskundige zu finden (auch an Tankstellen) war Glückssache. Doch wir erreichten Tichwin und fanden das einzige Hotel der Stadt sofort. Normaler russischer Standard, der bewachte Parkplatz leider etwas weit (ca. 1000 m) weg. Dafür nette Bewacher, die sich über die Schachtel Zigaretten (Hans: Wozu soll ich Zigaretten zollfrei kaufen?) sehr freuten. Statt Abendbrot wurde die erste Etappe im Bierzelt begossen. Zu essen gab es gegrillte Fleischstücke mit Brot und Ketchup, also Schaschlik. Egal, dafür schliefen wir gut.
Tichwin ist eine Kreisstadt. Dieser Eigenschaft verdankt sie die Existenz eines Hotels, welches das einzige im Umkreis von ca. 150 km ist. Wir wollten nach Rybinsk, 500 km weiter südlich. Das dortige Hotel wurde mir von einer Kontaktperson empfohlen, und wir blieben dort einen Tag. Wir mussten entscheiden, wie wir weiter fahren würden. Die Strecke nach Workuta und dann den Ural südwärts hatte ich schon „abgehakt”. Hans setzte sich durch, und wir beschlossen direkt zum Baikal zu fahren und dort einige Tage ohne Stress zu verbringen. Irina, unsere Kontaktperson, arbeitet für eine örtliche Zeitung. Gerne beantwortete ich ihre Fragen und stellte fest, dass sie tatsächlich wesentliche Teile meines „Russisch” verstand. Irina riet uns, nicht die M 7 über Kasan und den Ural zu nehmen, sondern die innenpolitisch unbedenklichere Route über die M 5 und den Südural. Als Gastgeschenk besorgte sie mir für mein Handy eine russische Prepaid-Karte, damit ich in Russland zu ortsüblichen Tarifen telefonieren konnte.
So verließen wir die „Fischstadt” Rybinsk, durch deren See Mütterchen Wolga (der russische Fluss schlechthin) fließt. Die Strecke bis Penza führte uns östlich von Moskau durch die osteuropäische Tiefebene.
Bereits hier „kurz hinter Moskau” kann man einen Eindruck davon gewinnen, mit welchen Entfernungen es die Menschen zu tun haben. In irgendeiner kleineren Stadt frage ich mal wieder nach der Durchgangsstraße. Selbst der Fahrer eines Kleintransporters konnte mir keine exakte Antwort geben. Ich fragte, warum denn die Strecke für den Fernverkehr nicht ausgeschildert sei?  Er zuckte nur hilflos mit den Achseln, ist halt so!
Am nächsten Tag, in wieder einer schlecht ausgeschilderten Stadt, bremste uns ein Shiguli aus und zwei Männer stürzten heraus. Es folgte „Folklore”, wie wir sie bereits häufiger erlebt hatten und später immer wieder erleben würden: Woher, wohin, wie schnell sind die Maschinen und wie teuer. Wenn die beiden nur nicht so stark nach Wodka gerochen hätten! (In Russland gilt die 0,0 Promille Grenze!) Immerhin konnte sich der eine kaum auf den Beinen halten! Ich ging nur kurz auf ihre Fragen ein und machte deutlich, dass wir eine Tankstelle brauchten und dann schnell in Richtung „Autobahn” wollten. Die beiden bedeuteten uns, ihnen zu folgen. Was soll’s, die gemischten Gefühle bei der Fahrt über Hinterhöfe verschwanden etwas, als wir an einer Tankstelle waren, die diesen Namen auch verdiente. Durch unsere Begleiter wurde schnell der der Kontakt zu den Mitarbeitern der Tankstelle hergestellt. Dabei stellte sich heraus, dass es sich um zwei stadtbekannte „bunte Hunde” handelte, von denen der eine Polizist war. Allerdings, so bedeutete er uns mit einem Anflug von Traurigkeit, in einem Ort am Weißen Meer, 6000 km von hier, seinem Heimatort entfernt.
Wir erreichten problemlos die M 5, die einzige Ost-West-Verbindung zwischen Moskau und dem fernen Osten dieses Riesenlandes, welches immer noch das größte Territorium auf der Welt besitzt. Täglich musste ich mindestens einmal anhalten, um irgendwelche Schrauben anzuziehen und zu sichern. Hier hatte Hans offensichtlich eine bessere Vorbereitung getroffen! An seiner Suzuki schien alles in Ordnung zu sein, aber spätestens jede Stunde mussten wir Pause machen, weil er tanken musste, weil er nicht mehr sitzen konnte oder weil er Hunger hatte. Als er sich wieder einmal zurückfallen ließ und auch nach längerer Zeit nicht auftauchte, fuhr ich zurück.
Unbemerkt war ein Systemkoffer von meiner BMW-RT durch die vielen Schlaglöcher abgebrochen und abgefallen. Dass die Telegabel mehrfach durchschlug, das registrierte man noch, aber das mit dem Koffer hätte ich alleine nie gemerkt! Da war ich doch ganz froh einen Begleiter zu haben.
Vor Samara riet man uns, ein Hotel in Toglatti zu nehmen. Auf der Suche nach diesem Hotel machten wir wieder eine „Stadtrundfahrt”, bis wir das Hotel fanden. Nicht ganz billig (40 Euro) aber sauber und mit einer guten Bar. Wir kamen mit Österreichern in Kontakt, die im dortigen Automobilwerk Service leisteten. Das Einkommen eines russischen Arbeiters in diesem Werk ist überdurchschnittlich und liegt zwischen 150 und 300 Euro monatlich. Größter Arbeitgeber ist das Auto-Werk, weswegen die Stadt auf dem Reißbrett konstruiert und gebaut wurde. Auf ca. 15 km2 wohnen und arbeiten hier 750.000 Menschen. Zunächst wurde in den Siebzigern der Fiat als Lada und Shiguli gebaut. Heute, und das kann man an den vielen Autotransporten sehen, wird nicht nur der Lada Niva, sondern ein Teil der Produktion unter dem Namen Chevrolet in alle Welt exportiert.
Der nächste Tag war durchwachsen, wie jeder Tag. Schwere Regenschauer wechselten mit sonnigen Abschnitten. Die Straße war nicht schlechter als die Landstraßen zu DDR-Zeiten. Nach einer kurzen Pause passierte es: Beim Auffahren vom unbefestigten Bankett auf die Fahrbahn glitt mir das Heck der BMW weg, und ich lag auf der Seite. Nach dem Aufrichten war nur der Hilfsrahmen der Kanzel verbogen. Es müssen unsere „Richtversuche” gewesen sein, bei denen Hans trotz aller Warnungen meinte, die Verkleidung nicht abbauen zu müssen, jedenfalls hatte die Kanzel keine Verbindung mehr zum Hauptrahmen. Schrammen an der Seitenverkleidung konnte ich verschmerzen, jedoch zeigte sich bei der weiteren Fahrt, dass die Kanzel verdächtig anfing zu arbeiten. Meine Kabelbinder halfen hier wenig und auch andere Versuche mit Draht zeigten keine Wirkung. Die nächste BMW-Werkstatt war in Jekaterinburg, ca. 1200 km entfernt. Dazwischen lagen Ufa und Tscherljabinsk. In Ufa wollte das billigste Hotel 50 Euro für die Nacht haben, was uns zu viel war. Ein jugendlicher BMW-PKW-Fahrer hielt neben uns an, während wir noch berieten, was zu tun sei, und bestaunte die BMW mit all ihren Blessuren und bot Hilfe an. Kreuz- und quer durch die Stadt und durch den Stadtpark landeten wir an der Bjelaja und einem zu einem Hotel umgebauten Wohnschiff. Der Übernachtungspreis ging in Ordnung, nur mit den Motorrädern gab es Probleme. Doch für den Preis von fünf Euro extra durften die Motorräder vor dem Schiff in Sichtweite des Wachpersonals stehen bleiben.
Rustan, unser Begleiter, der alles für uns geregelt hatte, hörte sich mein Problem mit dem Rahmen an. Er riet davon ab, die offizielle Werkstatt aufzusuchen und vermittelte eine andere Werkstatt.
Die nächsten zwei Tage schleppten sich dahin. Die Kanzel arbeitete immer mehr. In Jekaterinburg rief ich den Leiter der vermittelten Werkstatt, Dennis, an, und er kam prompt mit seinem Mercedes angebraust und lotste uns in eine Hinterhofwerkstatt, die wie ein Gefängnis schwer bewacht wurde. Alles kein Problem, sagte er nach einem flüchtigen Blick, der Guß-Rahmen würde geschweißt werden, und alles andere auch schon klappen. Wir sollten uns nur erholen, und als Quartier schlugt er das nächste Hotel vor. Das hatte aber vier Sterne und wollte 100 Dollar die Nacht und Nase. Da hatte Dennis aber schon 20 Dollar runtergehandelt. Was soll’s, wenn schon die Motorräder weg sind, dann will ich wenigstens gut schlafen! Wir versuchten unser Nervosität zu verbergen und machen einen Stadtrundgang. Die einzige Heldenstadt Russlands, die nicht unmittelbar von Krieg betroffen war, verdiente den Titel durch die inzwischen daniederliegende Schwerindustrie. Hier im ehemaligen Svertlowsk und im nahe liegenden (500 km) Tscherljabinsk, wurde unter anderem der berühmte Panzer T 34 gebaut.
Den nächsten Tag verbrachten wir in der Werkstatt. Die BMW war bereits zerlegt. Bis 16 Uhr waren alle Teile geschweißt, gerichtet und montiert, einschließlich einer Probefahrt durch mich. Das alles geschah ohne Originalteile, ohne Reparaturanleitung, ohne Spezialwerkzeug. Sogar der Koffer war geklebt und abgebrochene Teile an der Kanzel befestigt worden. Überglücklich, weil alles so glatt lief und all unsere Befürchtungen grundlos waren, verließen wir die Stadt und „machten Strecke”.
Die Fahrt über Tjumen und Omsk nach Novosibirsk verlief unspektakulär. Das sibirische Tiefland ist noch weiter als im europäischen Teil. Felder mit einer Größe von 200 ha    werden unterbrochen durch Baumgruppen von Birkenwäldern. In den Dörfern werden häufig Kartoffeln angebaut. Zwischendurch laufen große Kuhherden über mäßig gute Weiden, die teilweise von Reitern oder halbwüchsigen Jungen oder gar nicht bewacht wurden! Trotz der einfachen Lebensweise scheint es an Nahrung nicht zu mangeln. Dies bestätigte unterwegs auch ein Hotelier mit einer eindeutigen Handbewegung in Höhe des Halses.
Novosibirsk selber ist die eigentliche Hauptstadt Sibiriens und liegt etwa auf dem Breitengrad Berlins. Verkehrstechnisch gelangt man von hier aus auf dem Landweg in die Mongolei und nach Kasachstan sowie in alle Gebiete Sibiriens. Auf dem mächtigen Ob fährt man im Sommer bis in die Kara-See und von dort aus nach Murmansk. Auf dem Luftweg sind alle Zentren Europas und Asiens leicht erreichbar. Die Transsibirische Eisenbahn gilt immer noch als Hauptverkehrsmittel für Massengüter. Nicht erst seit dem Bürgerkrieg und den Bestrebungen Koltschaks gibt es einen Drang nach Selbstständigkeit von Moskau, welches immerhin 4000 km entfernt ist. Novosibirsk befindet sich in der Mitte Russlands. Neben der Sauberkeit fallen einem Besucher die vielen Asiaten auf, von denen man schlecht nach Japanern, Mongolen oder Ureinwohnern unterscheiden kann. Wir fanden Lokale aller europäischen und asiatischen Küchen und auch der amerikanische way-of-life ist in Novosibirsk vorhanden.
Bei einer Stadtführung erfuhren wir, daß der General und Gouverneur Lebed viel für die wirtschaftliche Entwicklung der Region leistete. Das nahe liegende Wasserkraftwerk am Ob wird im Winter wegen Eisgang abgeschaltet, und Elektrizität und Fernwärme werden dann über Kohlekraft erzeugt. Mitte Juli waren die Temperaturen bei erträglichen 25 °C. Bei einer Taxifahrt versicherte man mir, dass das sehr schönes Wetter war: Mit +20 °C tagsüber und -20 °C nachts. Ab ca. zwei Metern Tiefe herrscht bereits Dauerfrostboden. Wir bemerkten dies immer in dem Moment, wenn sich die Sonne hinter einer Wolke versteckte. Dann fingen wir immer an zu frösteln und waren froh, einen Pullover dabei zu haben.
Wir verließen Novosibirsk und die Tiefebene und fuhren nach Krasnojarsk, vorbei an den Ausläufern des Altai und den Bergbaugebieten von Novokusnjetsk. Unser nächster Zwischenstopp war lange Zeit das Wissenschaftszentrum des militärisch- industriellen Komplexes der alten UdSSR und deshalb eine geschlossene Stadt. Michael, unser örtlicher Begleiter, den ich über das Internet kennen gelernt hatte, ist Kinderarzt und Mitglied im örtlichen Bikerclub. Das Clubheim befindet sich auf dem Dampfer, der Lenin 1897 in die Verbannung nach Schuschenskoje brachte. Weil Tamara, auch ein Mitglied des Clubs, beim staatlichen Sportfernsehen als Redakteurin arbeitet, stand mit einem Mal ein Kamerateam vor dem Clubheim, und wir wurden interviewt. Obwohl der Clip im Fernsehen nur drei Minuten dauerte, machte das Team zwei Stunden Aufnahmen von uns, unseren Maschinen und unseren Freunden. Nach einer Teepause machten wir eine Ausfahrt mit den Bikern zum Wasserkraftwerk Dvinogorsk. Der Staudamm ist 1072 m breit und gemessen an der Stromerzeugung das größte Kraftwerk Russlands. Der Stausee ist über 400 km lang und zieht sich durch außerordentlich schöne Landschaften des Sajangebirges. Neben dem Kraftwerk befindet sich eine Schiffshebeanlage um den Verkehr auf dem Fluss zu gewährleisten. Schweren Herzens verließen wir Krasnojarsk, auch weil hier in einer Woche ein großes russisches Bikertreffen stattfinden sollte.
Nachdem wir uns in Taischet noch einmal gut ausgeruht hatten, begann das eigentliche Abenteuer Straße. Bedingt durch die Höhenzüge des Sajan, den Dauerfrostboden in 1-1,5 m Tiefe und den gesamten Verkehr, der in Ost-West-Richtung hier durch muss, glich die Straße häufig nicht einmal einer Piste. Hinzu kamen die Feuchtigkeit von oben, die meiner Reise-BMW nicht besonders gut tat. Aber auch Hans auf seinem Chopper sah nicht sehr freundlich aus. Nach diesen 300 km war uns jedes Hotel recht, Hauptsache wir konnten uns waschen! Zufällig gab es nur ein Hotel auf der 700 km langen Strecke zwischen Taischet und Irkutsk.
Der Baikal empfing uns mit Regen und Temperaturen um 17 °C. Unser Weg führte uns am Südufer des    Baikal vorbei durch gebirgige und teilweise unbefestigte Streckenabschnitte. In Ulan-Ude, der Hauptstadt der Burjatischen Republik, machten wir Rast. In dieser Stadt machten wir interessante Entdeckungen. Es ist üblich, dass den ersten Schluck die Erdgeister bekommen - wir befanden uns auf Schamanengebiet! Da hört man auf einmal schlechtes Russisch und trifft eine deutsche Familie, die hier drei Wochen Urlaub bei Freunden macht, sieben Zeitzonen von zu Hause weg. Da trifft man auf den größten Lenin-Kopf der Welt, der zur Weltausstellung in Montreal war und hier noch lange stehen wird. Da findet man in der Nähe (Ivolgingk) das einzige Lama-Kloster, das die 80 Jahre Sozialismus überstanden hat und an dessen Erweiterung fleißig gearbeitet wird. Oder lag es alles am schönen Wetter, das uns diese Stadt so gut gefiel?
Hans wollte unbedingt noch zur Insel Olchon. Also fuhren wir mit meinem kaputten Reifen weiter. Ein Stein hatte sich seitlich in den Hinterreifen gedrückt und ein großes Loch erzeugt. Zum Glück hatte ich einen Technikkurs absolviert und wußte, wie man eine solche Reparatur mit Bordmitteln ausführt. Der Reifen ließ zwar Luft, aber man konnte fahren, also fuhren wir nach Irkutsk. Aber nicht zur Insel! Die 350 km von Irkutsk nach Olchon machten wir mit dem Bus und ließen die Motorräder im Quartier. Welch ein Glück, denn es ging wieder über Piste durch die steppenartige Landschaft. Diesmal erwischte es den Bus, der zwar mit zwei Fahrern besetzt war, aber nur einen Ersatzreifen mit hatte. Also kamen wir spät abends an. Igor, der das einzige „Hotel” auf der Insel Olchon für internationale Gäste besaß, quartierte uns in das Haus der „Sternflüstern”-Familie ein. Flur, Küche und die zwei Räume waren nur durch Vorhänge abgeteilt! Im Flur hinter dem Vorhang schlief ein jüngeres Mädchen, welches offensichtlich zum Personal gehörte, wir Männer in einem Raum, zwei junge Damen aus Novosibirk im anderen Raum und vor dem Haus im Auto zwei weitere Personen - es war touristische Hauptsaison. Wasser zum Waschen stand für alle im Eimer bereit, die Trocken-Toilette war sehr weit vom Haus weg. Trotzdem war ich erstaunt, wie viele, insbesondere Deutsche, diesen Ort aufsuchen, dessen einfache Schönheit den vielen russischen Dörfern gleicht.
In Irkutsk angekommen, mussten wir uns langsam für die Rückreise mit der Transsibirischen Eisenbahn vorbereiten. Noch schnell Sightseeing, einkaufen, verladen! Bedingt durch den häufigen Regen war der Boden total aufgeweicht, die Straßen in einem erbärmlichen Zustand, mit großen Frostaufbrüchen und riesigen Pfützen.
Uns erinnerte das überwältigend vielfältige Angebot in der Markthalle an Europa. Es gab alles, von frischen Weintrauben bis zum Nordseeaal. Die Preise waren nur wenig unter den deutschen, das aber bei weniger als 1/10 des deutschen Einkommens. Hier, am Beginn des östliche Sibiriens, noch sehr weit weg vom der Region des Fernen Ostens Russlands, wachsen klimatisch bedingt (wir befinden uns auf dem Breitengrad Münchens!) außer ein paar Gurken, Waldbeeren und Pilzen, Kartoffeln und schnell wachsenden Getreidesorten keinerlei vermarktungsfähige Produkte. Selbst Äpfel und andere Obstsorten werden importiert. Der nahe chinesische und japanische Markt sorgt für eine problemlose Versorgung. Es ist von allem genug da, aber trotzdem müssen insbesondere viele ältere Menschen, deren staatliche Vergünstigungen weg gefallen sind, mit ihren wenigen Rubel sparsam sein. Selbst Tanja, unsere „gute Fee” vor Ort konnte diesen Eindruck nicht zerstreuen.
Tanja war es auch, die die Formalitäten mit der Eisenbahngesellschaft hervorragend managte. Ein Transport der Motorräder als Gepäck war nur möglich, wenn die Tanks leer und zusätzlich mit Wasser gespült waren. Es gab sogar Hilfe zum Verladen in den 1,5 m hohen Waggon: Zwei Männer und eine Bohle! Obwohl wir für die gesamte Prozedur nur 20 Minuten Zeit hatten, gelang uns auch dies.
Und so konnte die Rückreise unserer Tour beginnen. Vier Tage und Nächte rumpelte der Kurzzug Nr. 9 mit 40 Waggons der Hauptstadt Moskau entgegen. Zeit, die Landschaft zu genießen, die aus dem Zug gesehen schon eher der Taiga entsprach, die ich aus den Filmen kannte. Zeit aber auch, zu philosophieren, ob man das Land kennen gelernt hatte. Die Antwort fiel vernichtend aus. Wir hatten zwar deutlich mehr gesehen und erlebt als viele Menschen je erleben werden, aber kennen gelernt hatten wir diese Land nicht.
Der traurige Armenier, dessen Familie vom Zaren und von den Kommunisten aus religiösen Gründen verfolgt wurde und auch jetzt von den Russen, die hier wohnen, diskriminiert wird, begleitete meine Gedanken. Die Usbekin, die hierher geheiratet hatte als es noch Arbeit gab und uns spontan ein Frühstück spendierte, als sie hörte wir seien aus Europa. Der Nachfahre deutscher Siedler der sich wortlos zu uns an den Tisch setzte um wieder ein wenig deutsch zu hören, ohne dass er es verstand. Der Milizionär, der uns nur anhielt um in Ruhe die Motorräder bewundern zu können. Die vielen jungen Leute, die diesem Land aus Idealismus die Treue halten, solange sie noch Arbeit haben. Menschen, die keinen Alkohol trinken und deren Gastfreundschaft alle Vorstellungen sprengte. Die vielen Sicherheitskräfte in Uniform oder zivil, die dezent dafür sorgten, dass uns kein Leid geschah und die Motorräder immer sicher aufbewahrt wurden. Das Ehepaar, welches mit ihren zwei Söhnen im Lada nonstop von Sachalin zum Schwarzem Meer 10.000 km fährt um eine Woche Urlaub zu machen.  War das schon Russland, oder war das Sibirien? Aber auch Marek, der Pole aus Chicago, der mit 4000 Dollar in der Tasche auf Weltumrundung mit seiner KTM war, gehörte genauso zu meinen Gedanken, wie das ältere australische Ehepaar, das sich den Traum einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn erfüllte.
Zu unserer Überraschung standen in Moskau die Motorräder immer noch im Gepäckwaggon auf dem Hauptständer, ohne irgendwie festgezurrt gewesen zu sein. Es gab sogar richtige Bahnsteige - wir waren offensichtlich in Europa angekommen. In Moskau besichtigten wir den Kreml und die Rüstkammer der Zaren. Der Rote Platz empfing uns mit der Basilius Kathedrale und dem Lenin Mausoleum. Im Kaufhaus GUM, welches schon vor über 100 Jahren im Stile heutiger Einkaufspassagen über mehrere Stockwerke gebaut wurde, kauften wir die üblichen Souvenirs und erholten uns bei Cappuccino. Ab ging es über die Autobahn, die diesen Namen auch verdiente, in Richtung St. Petersburg. Das Bernsteinzimmer in Puschkino lag auf dem Weg. Zum Pflichtprogramm gehörte auch das Russische Museum mit Werken Repins und Kardinskis.
Nach einer ruhigen Nacht begaben wir uns auf die ausgebuchte Fähre nach Rostock. An Bord der Finnjet waren die Sorte Touristen, die bereits vor der Abfahrt ein Taxi in Rostock orderten, die sich über die schlechten Straßen in Petersburg beschwerten und über die schlechten Hotels und das eintönige Essen klagten. Ich verkroch mich so gut es ging mit meinen Erlebnissen und Erfahrungen.
Der letzte Morgen auf See nach 36 Stunden Überfahrt brach an. Wir waren nach sechs Wochen wieder zu Hause. Die Motorräder waren lädiert, aber heil. Wir hatten das Gefühl, dem russischen Bären ein wenig am Fell gekrault zu haben! 10000 km mehr zeigte mein Kilometerzähler. Und Erfahrungen! Mit einem völlig neuen Gefühl begann ich am nächsten Morgen meine eigentliche Arbeit und hörte mit Erstaunen, wie schön der Urlaub bei den anderen Kollegen verlaufen war. Na ja: Der Himmel ist hoch, Moskau ist weit, 100 Jahre sind keine Zeit und 1000 km keine Entfernung!
Russland, ich komme wieder!

Hallo Leute